Bei "normalen" Mehrwegeboxen achtet man vor allem auf einen gleichmäßigen Frequenzgang und weniger auf das richtige Verhalten im Zeitbereich. Nach allgemeiner Lehrmeinung reagiert der Mensch recht kritisch auf Fehler im Frequenzgang und ist sehr tolerant gegenüber - zusätzlich eingeführten - Phasenfehlern bzw. nicht perfekter Rechteckwidergabe.
Wann kann ein zeitrichtiger Lautsprecher seine theoretischen Vorteile in der Praxis ausspielen?

Bei mehreren gleichzeitig mit mehreren Mikrofonen aufgenommenen Instrumenten dürfte der theoretische Vorteil eines "zeitrichtigen" Lautsprechers tatsächlich nicht zum Tragen kommen. Wenn es sich aber um Aufnahmen eines einzelnen Instruments mit nur einem Mikrofon handelt, dann kann ein "zeitrichtiger" Lautsprecher seine theoretische Überlegenheit ausspielen.

Diese Situation kann man mit dem Kopieren einer Vorlage vergleichen. Ist die Vorlage messerscharf (ein Instrument mit einem Mikrofon) dann kann ein perfekt scharfer Kopierer ("zeitrichtiger" Lautsprecher) seine Stärke gegenüber einem weniger scharfen Kopierer ausspielen. Ist die Vorlage aber schon unscharf sind die Unterschiede zwischen einem scharfen und weniger scharfen Kopierer kaum zu erkennen und es ist nicht zu sagen, welcher von beiden Kopierern der "bessere" ist.

Bei der Lautsprecherentwicklung gilt als beste Vorgehensweise die akustischen Flankensteilheiten möglichst symmetrisch auszulegen und die Teilbereiche möglichst konstruktiv zu überlagern (-> "Treffen" beim -6 dB-Punkt, siehe auch Weichentricks Teil 6). Wenn man dazu ein Chassis verpolen muss - na und?

Die Sprungantwort einer solchen Konstruktion sieht dann zum Teil abenteuerlich aus. Will man tatsächlich einen "zeitrichtigen" Lautsprecher bauen, der ein hochpassgefiltertes Rechtecksignal weitgehend unverfälscht wiedergeben kann muss man auch im Zeitbereich denken - und damit leben was das im Frequenzbereich bedeutet.

Das prinzipielle Vorgehen ist dabei eigentlich ganz einfach:

  1. Zunächst erzeugt man sich eine "leere" WAV-Datei (44100 Hz Abtastfrequenz) mit 16384 Abtastwerten
  2. Dann setzt man z.B. den 300. Abtastwert (ARTA lässt grüßen) auf 100% Vollaussteuerung -> Dirac-Signal (Eingang)
  3. Dieses Signal wird hochpassgefiltert (z.B. mit einem Butterworth-Filter 2. Ordnung) -> Ausgang Hochtöner
  4. Das gefilterte Signal wird vom Ausgangssignal abgezogen -> Dieses Differenzsignal (Ausgang Bass) müsste der Tieftöner wiedergeben damit die Summe wieder das Eingangssignal ist:
    Ausgang = Tiefpass + Hochpass = (Eingang - Hochpass) + Hochpass = Eingang
Im Zeitbereich läuft eine ideale Addition also darauf hinaus, dass man eine Filterfunktion vorgibt und die andere durch Subtraktion im Zeitbereich erhält!

Das wäre es schon gewesen - wenn man ideale Chassis hätte . . . Dann müsste man nur beide Chassis mit der vorgegebenen und berechneten Filterfunktion filtern. Theoretisch müsste man zunächst beide Chassis komplett entzerren (-> linearer Frequenzgang von 20 bis 20000 Hz, auch für den Hochtöner), etwaige Laufzeitdifferenzen ausgleichen und dann wie oben berechnet filtern. Da die Entzerrung und die benötigten Filterfunktionen nicht gerade im Lehrbuch stehen und in der Regel ein Timedelay nötig ist kommt zur Realisierung eigentlich nur eine digitale Frequenzweiche in betracht. In der Praxis muss man nicht erst das Chassis perfekt linearisieren und dann filtern sondern kann gleich die gewünschte akustische Filterfunktion einstellen, was mit digitalen Lautsprecher-Managementsystemen und Messtechnik recht komfortabel geht.


Probieren geht über Studieren

Zum Filtern im Zeitbereich kann man entweder eine digitale Weiche nehmen (z.B. BEHRINGER UltraDrive Pro DCX2496) und die Ausgänge über einen einfachen Summierer addieren

oder rein digital arbeiten. Wie man WAV-Dateien mit vorgegebenen Filterfunktionen digital filtert wurde im Artikel Musik "verstehen" mit GoldWave: Filtern Teil 2 (nur für Abonnenten) erläutert. Im (1. Teil (nur für Abonnenten) wurde gezeigt, wie man die Impulsantwort in ARTA importiert und so den komplexen Frequenzgang ermittelt.

Ob die Theorie in der Praxis funktioniert haben wir zunächst interaktiv mit dem DCX2496 und dem einfachen Summierer ausprobiert. Hier hatten wir automatisch "ideale Chassis" und konnten uns nur auf die Filterfunktionen konzentrieren. Da zeigt sich wieder einmal, dass so eine digitale Weiche das ultimative Lerngerät ist . . .

Wenn man die Prozedur mal für einen Butterworth-Hochpass 2. Ordnung mit einer Trennfrequenz von 1 kHz macht ergeben sich die folgenden Sprungantworten:

Und so sehen die zugehörigen Frequenzgänge aus:


-> der Hochpass sieht bilderbuchmäßig aus
-> der resultierende Tiefpass hat nur eine Steilheit von 6 dB/Oktave
-> außerdem hat er eine höhere Trennfrequenz und ein Überschwingen von 2 dB

Wer hätte das gedacht? Der flache Abfall der Tieftöners und die Überhöhung sind allerdings ungünstig. Wie sieht es denn aus, wenn man einen Hochpass mit 24 dB/Oktave vorgibt?


-> der Hochpass sieht bilderbuchmäßig aus
-> der resultierende Tiefpass hat wieder nur eine Steilheit von 6 dB/Oktave
-> außerdem hat er eine noch höhere Trennfrequenz und ein Überschwingen von sogar 5 dB

Der Nachteil der geringen Steilheit des Tiefpasses ist ein breiter Überlappungsbereich. Dadurch ergibt sich je nach vertikaler Abstrahlrichtung eine andere Überlagerung. Dadurch hört man je nach Ohrhöhe etwas Anderes, außerdem reagiert ein solches System sehr empfindlich auf unterschiedliche hallige Räume.

Auch bei Vorgabe eines 18 dB/Oktave Hochpasses und von Hochpässen mit geringerer Güte (z.B. Bessel oder Linkwitz-Riley) ändert sich das grundlegende Verhalten nicht. Erst wenn man den Tiefpass vorgibt und das gefilterte Signal von einem verzögerten Diracimpuls abzieht sieht die Welt wieder besser aus. Anders herum betrachtet muss das Signal des Hochtöners um die Verzögerung später kommen um den verspäteten Diracimpuls wiederzugeben. Darüber hinaus muss der "voreilige" Impuls des Tiefpasses durch den Hochpass invertiert werden:


-> der Tiefpass sieht bilderbuchmäßig aus
-> der resultierende Hochpass hat eine anfängliche Steilheit von 18 dB/Oktave
-> außerdem hat er eine etwas höhere Trennfrequenz und einen flacheren Übergang zum Durchlassbereich
-> beides entlastet den Hochpass
-> bei tiefen Frequenzen wird noch etwas Pegel vom Hochpass gefordert, allerdings auf sehr geringem Niveau

Mit diesem Vorgehen lässt sich eine leicht verzögerte aber ideale Rechteckwiedergabe erreichen und gleichzeitig ein geringer Überlappungsbereich, so dass das vertikale Rundstrahlverhalten günstiger ist.

Diese Strategie wurde von uns schon seit 2 Jahren "intuitiv" verwendet, wobei wir aber noch zu sehr im Frequenzbereich und in symmetrischen akustischen Filterfunktionen gedacht haben. Schon damals erstaunte uns, dass die benötigten Timedelays wesentlich größer waren als man dies aufgrund der unterschiedlichen Schallentstehungsorte (= SEO) erwartet hätte. Jetzt wissen wir wieso . . .

Die Vorgehensweise mit dem Subtraktionsfilter bzw. der Kombination aus Subtraktionsfilter und Zeitverzögerung haben wir übrigens nicht erfunden. Auf diesem Gebiet tut sich seit langem ein gewisser Herr Kreskovsky hervor, der sich teilweise auf weitere Quellen beruft. Auf seiner Homepage kann man tonnenweise Material zu diesem Thema finden, das allerdings zum einen nur auf Englisch vorliegt, zum anderen sehr formelmäßig aufbereitet ist. Hier gibt es aber auch einige Programme und EXCEL-Arbeitsblätter, die für verschiedene Filtervorgaben die aus einer Subtraktion und ggf. Zeitverzögerung resultierende "zeitrichtige" Filterfunktion berechnet.


Fazit:

Die neuen Erkenntnisse zum Thema "zeitrichtige" Wiedergabe haben wir bei der Rocket konsequent umgesetzt, die auf der HiFi-Music-World 2007 erstmals vorgestellt wird. In zahlreichen Tests wurden die Chassis der Rocket in den letzten Monaten aufgrund ihrer Messdaten ausgewählt. Ziel war es, einen Lautsprecher zu entwickeln, der das eingespeiste Signal möglichst richtig wiedergibt. Lassen Sie sich überraschen . . .

You have no rights to post comments